Ansprache von Prof. Dr. Dr. Heinz Schott, Ordinarius für Medizingeschichte an der Universität Bonn, zur feierlichen Übergabe des Bettenhauses I im Universitätsklinikum Bonn am 18. Juni 2007
Heinz Schott
Adolf Nussbaum:
Zur Erinnerung an den Namensgeber einer neuen Bettenstation
Ansprache zur feierlichen Übergabe des Bettenhauses I
im Universitätsklinikum Bonn am 18. Juni 2007
Sehr verehrte Angehörige der Familie Nussbaum,
sehr geehrter Herr Minister,
meine Damen und Herren!
Vor etwa zehn Jahren entdeckte der damalige Dekan der Medizinischen Fakultät Bonn, Professor Hirner, in einem Aktenschrank ein verstaubtes „Schwarzes Buch“, das unbemerkt in einer Ecke lag. Es enthielt ein handschriftlich geführtes Register über die „Entziehung der medizinischen Doktor-Würde“ an den medizinischen Fakultäten, das während des „Dritten Reiches“ angelegt wurde. Die Entziehung des Titels „Dr. med.“ geschah in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle aus rassistischen (antisemitischen) Gründen, wegen „Aberkennung der Staatsangehörigkeit“, wie es im damaligen Jargon hieß. Dieses Buch wurde, wie sich herausstellte, lange über das Ende des „Dritten Reiches“ hinaus fortgeschrieben und enthält vereinzelt auch Einträge aus späteren Jahrzehnten. Zur Auseinandersetzung mit dieser dunklen Seite unserer Universitäts- und Fakultätsgeschichte ist seither einiges geschehen: Ich erinnere an die Gedenkfeier der Universität zur Rehabilitation derjenigen ihrer Mitglieder, denen im Unrechtsstaat die Doktorwürde aberkannt wurde, die Benennung eines Hörsaals zu Ehren des vertriebenen Zahnmediziners Alfred Kantorowicz, das grundlegende Werk von Hans-Paul Höpfner „Die Universität Bonn im Dritten Reich“ und last but not least die im vorigen Jahr publizierte Habilitationsschrift von Ralf Forsbach „Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im ‚Dritten Reich’“.
Der Initiative von Professor Hirner, dem Direktor der Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, ist es zu verdanken, dass jetzt eine neue Bettenstation zu Ehren eines Opfers des NS-Unrechts benannt wird, nämlich Adolf Nussbaum, und dass aus diesem Anlass auch seine Nachkommen ausfindig gemacht und zur heutigen Feier eingeladen werden konnten. Ich darf hier noch einmal herzlich Frau Mechthild Nussbaum und ihre Tochter unter uns begrüßen und ihnen vielmals danken, dass sie heute hierher gekommen sind. Sie, Frau Nussbaum, sind die Enkelin des Namensgebers und jüngste Tochter von dessen ältestem Sohn Carl, der aus gesundheitlichen Gründen heute leider nicht dabei sein kann.
Adolf Nussbaum wurde am 4. August 1885 geboren. Er entstammte einer jüdischen Familie. Sein Vater Moritz Nussbaum war Professor an der Universität Bonn, der sich 1776 am hiesigen anatomischen Institut habilitiert hatte und 1907 zum Ordinarius für Biologie berufen wurde. 1900, also im Alter von 15 Jahren, wurde sein Sohn Adolf evangelisch getauft und konfirmiert. Vermutlich – wir wissen dies nicht genauer –geschah dies auf Veranlassung des Vaters, der angesichts des spürbaren Antisemitismus um die Jahrhundertwende Schwierigkeiten für eine von ihm gewünschte medizinische Karriere seines Sohnes befürchtete. 1904 absolvierte Adolf das Abitur und studierte in Heidelberg und Bonn Medizin, das er 1909 in Bonn mit dem Staatsexamen abschloss. Nach einem praktischen Jahr am Deutschen Hospital in San Francisco legte er auch das amerikanische Staatsexamen ab und wurde anschließend Assistent an der Bonner chirurgischen Universitätsklinik unter der Leitung von Carl Garré (1857-1928), an der er von 1910 bis 1928 tätig war: 1919 habilitierte er sich hier für Chirurgie und Orthopädie, 1922 wurde er zum Oberarzt und außerplanmäßigen Professor ernannt, von 1926 bis 1928 war er, nach Emeritierung von Garré, stellvertretender (kommissarischer) Klinikdirektor. Er machte sich selbstständig, als Erich von Redwitz die Leitung der Klinik übernahm, und unterhielt Belegbetten am Malteser- und am Johanniter-Krankenhaus. Im „Biographischen Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre“ (erschienen 1933), dem bekannten Standardwerk, heißt es: „Seine [Nussbaums] Arbeiten betreffen die Knochengefäße, den experimentellen Perthes, die Muskelregeneration, Bauchschnitte und Knochensägen.“
1920 heiratete Nussbaum die katholische Elisabeth („Lisel“) Lintz aus Trier, mit der er drei Söhne hatte: Carl (geb. 1921), Fritz (1923-1963) und Kurt (1927-1945 [vermisst]).
Am 8. September 1933 wurde ihm aufgrund der NS-Gesetzgebung die Lehrbefugnis entzogen. Die Kenntnis der vom Kurator der Universität Bonn ausgefertigten Abschrift wurde von den Ordinarien der Medizinischen Fakultät per Unterschrift bestätigt. (Das Faksimile ist in der Festschrift „Universitätskliniken und Medizinische Fakultät Bonn 1950-2000“ auf S. 32 wiedergegeben). Zugleich wurden Adolf Nussbaum die Belegbetten im Malteser- und Johanniterkrankenhaus entzogen. Kurioserweise erhielt er noch im Oktober 1934 „im Namen des Führers und Reichskanzlers“ das „Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer“ des Weltkriegs 1914/18. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der so genannten „Reichskristallnacht“, brannten alle fünf Synagogen, die auf Bonner Stadtgebiet lagen. Nussbaums Praxis wurde geschlossen und er musste seinen Führerschein abgeben. Ich zitiere Sohn Carl: „Am 28. Februar 1939 bekam Vater eine neue Kennkarte mit einem „J“ und musste von da an mit Adolf Israel unterschreiben. Der Name Israel wurde auf der Geburtsurkunde eingetragen […] mit dem Text: „Der Unterzeichnete hat zusätzlich den Vornamen Israel angenommen.“ Der Name Israel wurde am 15. Mai 1950 wieder gelöscht. Einen Judenstern brauchte Vater nicht zu tragen, da aus der Ehe Kinder hervorgegangen waren.“ Nussbaums Söhne Fritz und Carl konnten sich trotz allem zum Wintersemester 1941/42 an der TH Aachen einschreiben, obwohl dies „Mischlingen ersten Grades“ im allgemeinen untersagt war. Vermutlich wurden das Ehrenkreuz und die herausragenden wissenschaftlichen Verdienste von Nussbaums Vater als entlastende Momente gewertet.
1943 wurde Adolf Nussbaum zur städtischen Müllabfuhr herangezogen und hatte auf der Graurheindorfer Deponie zu arbeiten. Am 12. September 1944 erhielt das Ehepaar Nussbaum die Aufforderung, sich mit zweien der drei Söhne bei der Gestapo am Kreuzbergweg 5 mit gepackten Koffern einzufinden. Im offenen LKW wurden sie in ein Barackenlager in Köln-Müngersdorf transportiert, wo Adolf Nussbaum direkt als Lagerarzt tätig werden konnte. An eine Flucht aus dem relativ offenen Lager war wegen der „Sippenhaft“ nach dem 20. Juli nicht zu denken. Elf Tage später wurde die fünfköpfige Familie in die Deutzer Messehallen verlegt.
Hier erfolgte die Trennung der „arischen“ Ehepartner von den „Juden“ und deren Kindern. Nussbaums Ehefrau Liesel konnte sich zu Bekannten nach Jena begeben, die Männer kamen nach Zeitz, wo sie von der Organisation Todt (OT) übernommen wurden, der NS-Bauorganisation für militärische Anlagen. Hier musste sich Nussbaum von seinen beiden Söhnen verabschieden und hatte eine Reihe von Lagern der Organisation Todt zu durchlaufen, wo er jeweils als Arzt zum Einsatz kam, zuletzt in Sankt Georgen im Schwarzwald, wo er bis zum 24. März 1945 blieb. Schließlich „strandete“ er in Jena, wie sich sein Sohn Carl erinnert: „Am 31. März […] traf er in Jena nach tagelangen Bahnfahrten und immer wieder kilometerlangen Fußmärschen mit Hungerödemen in den Beinen völlig erschöpft ein. Er wurde von Dr. Stöck krankgeschrieben, eine Weiterfahrt nach Berlin war wegen zerstörter Bahnanlagen nicht mehr möglich.“
Adolf Nussbaum kehrte Ende Juni 1945 nach Bonn zurück. Er musste sich sogar einem formalen Entnazifizierungsverfahren unterziehen, das am 14. Mai 1948 mit der Einstufung in Katogorie V („Entlasteter“) abgeschlossen wurde. Bereits Mitte Oktober 1945 wurden seine akademischen Rechte, insbesondere seine Lehrbefugnis, wieder hergestellt; ebenso konnte er seine klinische Tätigkeit am Malteser- und Johanniterkrankenhaus wieder aufnehmen. Am 17. März 1962 erlag er im Alter von 76 Jahren einem Schlaganfall.
Wenn wir uns heute, sieben Jahrzehnte nach den entwürdigenden Ereignissen zurückerinnern, so fallen einige irritierende Sachverhalte auf, können wir gewissermaßen den „Pfahl im Fleisch“ spüren:
Tatsache ist: Adolf Nussbaum war rheinischer Protestant und deutscher Staatsangehöriger, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Wie nicht anders zu erwarten wurde er gemäß dem Rassenwahn des NS-Regimes wegen seiner familiären („rassischen“) Herkunft als Jude stigmatisiert. Er war, wie sein Vater, ein Bonner Universitätsprofessor, ein Mitglied unserer Medizinischen Fakultät, deren maßgeblichen Vertreter 1933 die Entziehung seiner Lehrbefugnis einhellig quittierten. Während des „Dritten Reiches“ gab es so gut wie keine Sympathiebekundung für den staatlich Verfemten, nach dessen Ende freilich wurde Nussbaums Opferrolle in manchmal fragwürdiger Weise charakterisiert. So heißt es in einem gut gemeinten Empfehlungsschreiben des Chirurgen Erich von Redwitz vom 17. Mai 1945: „Nach 1933 […] wurde ihm als Juden die ärztliche Approbation aberkannt und ihm in der Folgezeit, wie allen seinen Glaubensgenossen [!], grosses Unrecht angetan.“ (Natürlich waren mit „Glaubensgenossen“ nicht die christlichen Glaubensgenossen gemeint!) Im Bonner General-Anzeiger war dann unter der Überschrift „Zum Tode von Prof. Dr. Adolf Nussbaum“ 1962 zu lesen: „Mit aufrechter Haltung ertrug er harte Jahre im Konzentrationslager“; und in der Bonner Rundschau stand: „Unter unmenschlichen Bedingungen verbrachte er viele Jahre im Konzentrationslager.“
Doch Adolf Nussbaum war, Gott sei Dank, möchte man hinzufügen, niemals in einem Konzentrationslager. Er eignet sich nicht für die Märtyrer- oder Heldenrolle und hagiographische Verklärungen wären fehl am Platze. Eher war er ein bescheidener, unaufgeregter Landsmann, ein bönnscher Bürger eben, der hier geboren wurde und hier starb, einer von uns, einer von unserer Fakultät. Daran soll der Namen der neuen Station erinnern – erinnern an einen Menschen, der an den entwürdigenden Zumutungen eines unmenschlichen Regimes nicht zerbrochen ist. An seinem Beispiel können wir wiederum erkennen: Die von Rassenwahn und Antisemitismus angestachelte Ausgrenzungs- und Vernichtungsmaschinerie des „Dritten Reichs“ bedeutete nichts anderes als eine kulturelle Selbstverstümmlung, ja Selbstabtötung, die Selbstzerstörung einer Gesellschaft, in der „deutsches“ und „jüdisches“ Leben untrennbar miteinander verwoben waren – wie in der Biographie Adolf Nussbaums.
Zum Abschluss darf ich Ihnen, verehrte Frau Nussbaum, dieses Exemplar der Festschrift überreichen.
Ich danke Ihnen.